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EU-Forschungsprojekt SPES: Dr. Karin Kienzl-Plochberger (WISO) im Interview

Am 16. Juni 1014 ging das Projekt SPES (Support Patients through E-Service Solutions) mit einer Abschlusskonferenz im Wiener Rathaus zu Ende. Ziel war es, die Anwendung von E-Health, Ambient Assisted Living und Telemedizin-Lösungen im mitteleuropäischen Raum zu stärken. Dr. Karin Kienzl-Plochberger, Projekt-Koordinatorin seitens der Wiener Sozialdienste, zieht ein halbes Jahr nach Ende des Projektes im Interview mit der SobIT GmbH noch einmal ein Resümee.

 

Was ist Ihr persönliches Resümee nach Ende des Projektes?
Unterstützende Technologien wie e-Health, Telemedizin und Ambient Assisted Living haben das Potenzial, das Leben von kranken, behinderten und/oder älteren Menschen einfacher und unabhängig zu machen. Sie können individuelle Lösungen bieten und es dadurch diesen Menschen ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ihre Wohnsituation zu meistern. Es muss aber auch sichergestellt sein, dass diese Anwendungen leistbar und für jedermann zugänglich sind, und dass die Systeme miteinander kompatibel sind.
Von Anfang an bestand eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den PraktikerInnen und den TechnikerInnen. Die einzelnen Anwendungen wurden immer wieder durch die NutzerInnen getestet und ihren Bedürfnissen und Erfordernissen angepasst. Im Zuge der Entwicklungen wurde auch bedacht, dass die einzelnen Anwendungen kostengünstig sind, und dass auch ein komplexes technisches System einfach installiert werden kann und den Alltag unterstützt, ohne das persönliche Umfeld eines Menschen verändern zu müssen.
In diesem Projekt gab es eine intensive Zusammenarbeit von Praxis (Zielgruppen) und Forschung (Entwicklung), in einem weiteren Schritt/Projekt sollte die Kooperation um PartnerInnen aus der Wirtschaft (Produktion) erweitert werden.

Für das Wiener Pilotprojekt wurden verschiedene Testcases identifiziert und ausgewählt. Wie bzw. durch wen erfolgte die Auswahl?
Zu Projektbeginn (Frühjahr 2011) luden der FSW und die Universität Wien (Scientific Computing) VertreterInnen von gemeinnützigen Organisationen mit besonderer Expertise und bewährter Praxis im Bereich der Arbeit mit Menschen mit Demenz (FSW Pflege- und Betreuungsdienste GmbH, Wiener Sozialdienste, Caritas, Caritas Socialis,…) zu einem ExpertInnen-Treffen. Dabei wurden aus ihrer professionellen Praxis verschiedenste Vorschläge für Anwendungsmöglichkeiten zur Steigerung der Lebensqualität von älteren Menschen mit demenziellen Erkrankungen diskutiert.Die Universität Wien entwickelte daraufhin die 5 Testcases.
Die Einbeziehung der Testpersonen sowie deren Angehörige erfolgte bereits früh. Somit konnte das von der EU empfohlene User Involvement von Anfang an umgesetzt werden.

SPES Projekt

© Ludwig Schedl

 

Wie sehen die fünf Testcases im Detail aus?
Im Testcase „Orientierungshilfe“ ging es darum, Personen, die dazu neigen, sich zu verirren, leicht wiederzufinden. Wenn die Betreuungsperson eine SMS an das Lokalisierungsgerät sendet, antwortet dieses mit der Übermittlung der aktuellen Position der verirrten Person. Die Betreuungsperson erhält diese Information auf dem Display ihres Smartphones oder auf dem Bildschirm ihres PCs und kann daher nachfragen, ob und wenn ja welche Hilfe benötigt wird.
Umgekehrt ermöglicht das Gerät den Personen, die es bei sich tragen, auf besonders unkomplizierte Art selbst mit Unterstützungspersonen in Kontakt zu treten.
Es geht dabei nicht um die Überwachung der Personen, sondern darum, sie im Notfall schnell zu erreichen, und ihnen bei Bedarf zu Hilfe kommen zu können.
Die meisten Testpersonen fanden die Test-Aktivitäten unterhaltsam und nahmen sehr gern daran teil.  Das Gerät wurde von ihnen überwiegend als mögliche Unterstützung bzw. als interessante technische Entwicklung (vergleichbar mit einem Funkgerät) wahrgenommen.

Der Testcase „Gefährlichen Situationen vorbeugen“ wurde in einem Tageszentrum, das auf die Unterstützung von Menschen mit dementiellen Erkrankungen spezialisiert ist, durchgeführt. Im diesem Testcase wurden individualisierte Schutzvorrichtungen getestet: Betreuungs-Personen erhalten durch ein aktives RFID-System und eine spezielle Software über den PC eine akustische und visuelle Information,  wenn eine Person mit besonderem Unterstützungsbedarf aufgrund starker Desorientiertheit dabei ist, einen individuell definierten „Sicherheits-Bereich“, wie z.B. den Garten oder die Terrasse in Richtung Straße zu verlassen.
Die Rückmeldungen der Testpersonen waren durchwegs positiv: Sie fühlten sich durch die Tags nicht gestört oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Für die MitarbeiterInnen ist dieses Alarmsystem eine Unterstützung ihrer sehr aufwändigen Betreuungstätigkeit für desorientierte Menschen.

Die meisten Aktivitäten fanden im Rahmen des Testcase „Stimulation des Denkens, Wahrnehmens und Erinnerns (Brain Stimulation)“ statt: Persönliche elektronische Erinnerungsbücher für ältere Menschen, die für sie wichtige und ansprechende Bilder, Musik, Filme und Texte beinhalten, wurden im Rahmen des Projekt entwickelt und von den Testpersonen auf Touchscreen PCs aufgerufen und „durchgeblättert“. Einfache Spiele, Erinnerungsfunktionen (Uhr, individueller Kalender, Radio, Zugangzu Videos auf Youtube etc.) wurden für Gedächtnistraining oder zur Unterstützung für Menschen, die infolge ihrer Demenz-Erkrankung Kommunikationsschwierigkeiten haben, eingesetzt. Im ständigen Austausch zwischen TechnikerInnen, TherapeutInnen und Testpersonen wurden BenutzerInnen-Oberflächen entwickelt, die es ermöglichen, jede dieser Funktionen durch einfaches Berühren des Bildschirms oder mit einer speziellen, benutzerInnenfreundlichen Fernbedienung zu aktivieren. Es handelt sich bei allen Entwicklungen im Rahmen dieses Testcases um Open Source Software, die fortlaufend anhand der Inputs von BenutzerInnen und Betreuungspersonen weiterentwickelt werden kann.
In diesem Testcase fanden viele Testpersonen erstmals einen Zugang zu Aktivitäten mit dem PC und reagierten darauf sehr interessiert. So konnten Barrieren gegenüber der Nutzung von IKT abgebaut und die Welt des Internets für ältere Menschen mit Demenzerkrankungen zugänglich gemacht werden.

Auch der Testcase „Gegenstände wieder finden“ wird über die Software und den Touchscreen-PC aktiviert, wobei die Gegenstände, die erfahrungsgemäß häufig verlegt werden, mit einem aktiven RFID-Tag (Sensor) versehen wurden. Dieser Sensor gibt ein akustisches Signal, wenn das Bild des Gegenstandes auf dem Bildschirm berührt wird. Der Testcase stellte Testpersonen und EntwicklerInnen vor die Herausforderung, eine gleichzeitig gut hörbare und angenehme Lautstärke und Tonhöhe des Signals zu erreichen.

Der Testcase „Sprechender Schlüssel“ stieß von Anfang an auf besonderes Interesse vieler AnsprechpartnerInnen. Es ist nicht nur im Fall einer Demenzerkrankung unangenehm, die eigene Wohnung wegen eines vergessenen Schlüssels nicht aufsperren zu können. Für Menschen mit Demenzerkrankung können derartige Vorfälle, wenn diese gehäuft auftreten, aufgrund der damit verbundenen Risiken die selbständige Lebensführung insgesamt in Frage stellen.
Das System des „sprechenden Schlüssels“ ist komplex: Der Wohnungsschlüssel wird mit einem aktiven RFID-Tag in Form eines Schlüsselanhängers ausgestattet. Wenn jemand kurz davor ist, die Wohnung ohne diesen Schlüssel zu verlassen, löst ein neben der Wohnungstür angebrachter Reflexmelder die Nachricht „Achtung, bitte nehmen Sie zuerst den Schlüssel mit“ aus. Selbstverständlich kann diese Nachricht in jeder Sprache und, wenn jemand es bevorzugt, von vertrauten Personen aufgenommen werden. Unmittelbar danach gibt der Schlüsselanhänger ein akustisches Signal, sodass der Schlüssel in der Wohnung leicht und rasch gefunden werden kann.
Auch die technische Umsetzung dieses Testcases war von der aktiven Beteiligung der Testpersonen und PraktikerInnen abhängig: Die Reaktionsgeschwindigkeit des Reflexmelders muss der Geschwindigkeit der Testperson entsprechen und das Signal des Schlüsselanhängers angenehm und hinsichtlich Tonhöhe und Frequenz gut hörbar sein. Gleichzeitig ist die Frage des Energiemanagements (lange Funktionsfähigkeit der Batterien) zu berücksichtigen.
 
Wie haben die KlientInnen auf die AAL-Systeme reagiert?
Mit insgesamt 98 Personen im Alter zwischen 56 und 91 Jahren (44 Männer und 54 Frauen) wurden – je nach Interesse und Möglichkeit – Tests mit Lokalisierungsgeräten, einer für Menschen mit Demenzerkrankungen entwickelten Software, Touchscreen-PCs und kleineren AAL-Systemen durchgeführt. Die Testpersonen haben diverse dementielle Erkrankungen und erhalten daher in ihrem Alltagsleben Unterstützung in Tageszentren, Wohngemeinschaften und in ihren Wohnungen. Die meisten Testpersonen nahmen sehr gern an den Test-Aktivitäten teil. Nur acht Personen, die mit Test-Aktivitäten begonnen hatten, wollten diese nicht fortsetzen.
 
Wurde von Seite der Betreuungseinrichtungen, Angehörigen etc. der Wunsch geäußert, die Technologien auch weiterhin einzusetzen?
Das SPES-Projekt wurde während der Projektlaufzeit und auch danach unterschiedlichen Stakeholdergruppen präsentiert. Nachfrage nach den einzelnen Behelfen/Anwendungen besteht, allerdings müssten die im Projekt entwickelten Prototypen gewartet und/oder auch weiterentwickelt und das technische Know-how weitergegeben werden, da der technische Projektmitarbeiter seit Projektende nicht mehr verfügbar ist. Die Wiener Sozialdiensten bemühen sich zur Zeit um eine nachhaltige Verwendung der entwickelten Technologien.

 

Weitere Informationen:

Projekt-Homepage SPES
Bericht auf der Website der Wiener Sozialdienste
Presseaussendung

Updated: January 5, 2015 — 08:50
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